Betrachtet man rückblickend die Historiographie des Stilllebens, stößt man auf eine sehr interessante Definition, die uns zum Werk von Marco Schifano zurückführt und mit ihm verbindet. Wir sind im Jahre 1650, die Szene spielt in den Niederlanden und zum ersten Mal wird hier das Wort „stilleven“ benutzt, um dieses Genre zu bezeichnen, das ein Jahrhundert zuvor Vasari als „cose naturali“ („natürliche Dinge“) eingeordnet hatte. Man spricht noch nicht ausdrücklich von „Natura morta“, sondern von „stil“ und von „leven“ (zu dt.: „unbewegtes Leben“). Ein stilles, ruhiges Leben also, ein sichtbar unbeirrtes, unbewegliches, aber ungestümes und stürmisches zugleich ist genau das, was sich vor unserem Auge auftut, wenn man die Fotografie von Marco Schifano betrachtet.
Ein Blick und ein „Schnitt“, die uns eher an einen Maler erinnern, eben aus dem flämischen Gebiet; Marco scheint eine Realisierung des Subjekts verfolgen zu wollen, der zu einem Zitat des „Verschleierten“ wird, und in dem der szenische Aspekt, die Liebe zum Detail, die sorgfältige Anwendung von Licht und Schatten sich vereinen und sich zu einem Bild entwickeln, in dem der Augenblick das ewige Fließen der Zeit absorbiert.
Die Bilder sind im Studio aufgenommen, wo Marco Schifano Säugetiere, Reptilien, Raubtiere, Fische, vegetarische Raubwesen „sammelt“, sie dann mit verschiedenen Arten von Objekten verbindet und in einem Universum kontextualisiert. An diesem Punkt ist das Universum notgedrungen nicht mehr das der flämischen Malerei, sondern ein Abtauchen in eine Traumlandschaft wie der des Surrealismus, wo Unterbewusstes, Traumähnliches und Fantasie miteinander spielen und sich im Geiste miteinander verflechten.
Marco Schifano absorbiert mit seinem metallischen Blick die Essenz des Verhältnisses zwischen Raum, stillen Präsenzen, geheimnisvoller Realität, die uns illusorisch erscheint und einer Vorstellungswelt, die uns hingegen reell erscheint. Eine plötzliche, unerwartete Erscheinung, die gierig den Lebensraum „empfängt“: Es ist ein Augenblick, der Emotionsblitze, tierische Blicke, Flügelgeflatter, noch nicht ewigen Tod, umhüllende, tief im Schmerz gesunkene Gefühle erfriert.
Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit, alles ist dazu verdammt, zu erliegen und zu enden, dies scheint die Mahnung zu sein, die uns Marco Schifano brutal vorhält, kompromisslos, ohne Sinnesänderungen. Das Leben ist hinfällig, provisorisch und vergänglich, natürlich wird alles ein Ende haben, doch dies hindert Schifano nicht daran, uns dazu aufzufordern, jegliches Vorurteil abzulegen, die Sinne zu spitzen und uns in ein fantasiegesteuertes Universum zu führen, wo das Ephemere, das Schöne, die Geschichte, das Handgemachte empfängt und sich damit unterhält, und wo die Natur mit dem Tod Hand in Hand geht.
Marco Schifano reflektiert über die Zeit, die unaufhörlich Sequenzen von Gedächtnisaugenblicken sammelt, und findet in der Kraft des Stilllebens den Grund und die Prinzipien der Schöpfung, jene ursprüngliche Poesie, die dem Verstand und den Sinnesorganen das Wunder des Staunens zurückschenkt.
In der Serie „Extinction“, die Marco Schifano nun schon seit ein paar Jahren (für einen jungen Mann von siebenundzwanzig eine lange Zeit) realisiert, überhäufen sich die Anspielungen auf die Kunstgeschichte, insbesondere auf die Gattung des Stilllebens. Und dies geschieht zu Recht. Von den Flamen zur Neapolitanischen Schule, über - warum nicht?... - den erhabenen und mystischen Francisco de Zurbaran, ermöglicht es die Übung zur Deutung dieser Werke, eine Kultur, ja sogar eine Gelehrtheit an den Tag zu bringen, die dazu anregt, genaue Modelle in der Vergangenheit zu suchen. Eigentlich ist die Frage, die man sich stellen müsste eine ganz andere, und diese betrifft die Gegenwart: Warum verspürt ein junger Künstler von siebenundzwanzig Jahren das Bedürfnis, ein fotografisches Set aufzubauen, um eine (fast) tote Natur (im Sinne von „Natura morta“) nachzubilden, was womöglich schwieriger ist als sie zu malen (haben Sie je versucht, eine Schlange „in Pose“ zu stellen, oder einen Löwen, oder einen Kolibri)? Wenn man auf der Ebene der technischen Meisterhaftigkeit verbleibt, hat man vielleicht etwas nicht verstanden, obwohl jene Virtuosität uns fast offensichtlich entgegenkommt: Marco Schifano versucht zweifelsohne nicht, sich ihr zu entziehen, und unsererseits sind wir anfällig für dieses Staunen, jenes „Wunder“, das den ersten Kontakt mit der visuellen Dimension darstellt. Doch die Virtuosität und das „Zitieren“ erklären noch nicht alles, auch wenn sie uns klug und kultiviert fühlen lassen, genauso wenig wie uns eventuelle persönliche oder sogar psychologische Gründe interessieren – z.B. die „Unbefangenheit“ seines Vaters Mario im Verhältnis zur „Genauigkeit“ des Sohnes Marco: Eine mögliche, jedoch meines Erachtens etwas manichäische Deutung -, während hier das wichtige und kollektive, wenn nicht universelle Element das Gefühl einer gesuchten „Langsamkeit“ der Kunst gegenüber dem Leben ist, das Marco selbst mit einer fast dandyhaften Unbefangenheit angeht. Der Ort der Kunst wird somit zu einem Ort der „in-Pose-Stellung”, der „Konstruktion“, der „Komposition“, und wird fast zu einer Art Metasprache über sich selbst, wie im Fall von „Mickey“ (aus der jüngsten Serie der „Savages“), wo sich das Bild der berühmtesten Maus der Welt aus toten Feldmäusen zusammenstellt, und somit zur wörtlichen, allzu wörtlichen Bedeutung des italienischen Worts für Stillleben („Natura morta“= totes Leben) zurückkehrt. Diese Serie von Fotoarbeiten ermöglicht es also nicht nur, den Rest seines vergangenen Schaffens mit einem mehr meditativen, „langsameren” und zeitloserem Blick zu betrachten, sondern leitet einen Vorschlag für eine Zukunftsvision und -kontemplation ein, der in eine andere Zeit, an einen anderen Ort verlegt werden muss.
„Das, was Ölmalerei von jeder anderen Form der Malerei unterscheidet“, schreibt John Berger in seinem berühmten Ways of Seeing, „ist ihre besondere Fähigkeit, die Taktilität, die Textur, den Glanz, die Solidität dessen, was sie darstellt wiederzugeben. Sie definiert das Reelle als das, was man mit der Hand ertasten kann“. Unter „Ölmalerei“ versteht man im Berger’schen Sinne nicht die besondere Art der angewandten Technik, die auf einer (seit der Antike bekannten und noch stets angewandten) Vermischung von Öl und Pigmenten basiert, sondern vielmehr das Modell der Vision und Konzeption des Lebens und der Welt, das, seit dem XVI Jh. und bis zu dem durch Impressionismus und Kubismus eingeleiteten ästhetischen Wandel, in eben dieser künstlerischen Technik sein bestes Ausdrucksmittel gefunden hat. In der Gegenwart profiliert sich die Farbfotografie als das Instrument, das mehr als alle anderen imstande ist, die materischen Eigenschaften der Objekte wiederzugeben, wie es über Jahrhunderte hinweg nur die Ölmalerei zu tun vermochte. In dem Bewusstsein, dass die Fotografie dieses Erbe übernommen hat, unterstreicht Marco Schifano in der Serie „Extinction“ deren mimetischen und illusionistischen Fähigkeiten: Jenes eigenartige Gefühl, das reproduzierte Objekt anfassen zu können, das in dem Betrachter zur Überzeugung führt, es sogar greifen zu können, sich lebendiger Materie gegenüberzufinden. Gleichzeitig wendet er das fotografische Medium an, um einen persönlichen Weg à rebours in der Kunstgeschichte einzugehen; einen nicht-linearen Weg, basiert auf Zweideutigkeit und Doppelheit, im Rahmen dessen die Fotografie als Mittel zur Authentifizierung der Realität betrachtet wird, um deren Wahrhaftigkeit zu bezeugen und zu bestätigen, jedoch ausgehend von einer Fiktion. Das Barthes’sche „Es-ist-so-gewesen“ wird zwar in diesem Fall benutzt, um eine getreue Reproduktion der Realität wiederzugeben, oder sogar um sie zu „zitieren“ (hier kommt wieder einmal die Terminologie Bergers zum Einsatz), jedoch wird es angewandt, um eine künstliche Realität zu dokumentieren, eine äußerst ausgefeilte in-Szene-Stellung, in der es schwierig ist, die Grenzen zwischen Echt und Falsch, konkretem Objekt und virtuellem Bild wahrzunehmen. Die neue Wendigkeit der Digitalfotografie hat die Fotokunst als Registrierung des Sichtbaren in Krise gesetzt, die Grenzen zwischen Objektivität und Einbildungskraft verwischt und somit ein Gefühl der Unsicherheit im Beobachter hinterlassen: Um eben diese Wahrnehmungsinstabilität dreht sich die Arbeit von Marco Schifano. Die Schwierigkeit, die Natur dessen, was innerhalb des Bildes ist und vor allem der Art und Weise, wie es produziert wurde zu deuten, erweist sich als Knotenpunkt seiner Still-Lifes; Werke, die das Ergebnis einer artikulierten Praxis der Forschung, Aufnahme und Speicherung von schon existierenden Elementen sind, die jedoch trotz allem aufgrund der detailliert recherchierten Komposition und der unbeweglichen, fast unwirklichen Atmosphäre der Subjekte den Zweifel einer hochentwickelten digitalen Verarbeitung wecken. Werke wie „Dromedario“ stellen unausweichlich die Realität des Bildes selbst in Frage, dessen, was man tatsächlich betrachtet: Das Albino-Dromedar, unbeweglich und mit eisklaren Augen, scheint in keinerlei Verhältnis zur Sphäre der Natur zu stehen, obwohl es sich hierbei um ein Tier aus Fleisch und Knochen handelt, das bei einem der zahlreichen Zirkusbesuche des Künstlers ausgewählt wurde - der Zirkus als künstlicher Ort par excellence. Um die subtile Zweideutigkeit der Realität hervorzuheben, greift Marco Schifano in einigen Fällen auf verwackelte Bilder zurück: Die reelle Bewegung wird in ihrer fotografischen Augenblicklichkeit fixiert, das Flügelgeflatter, das in verschiedenen Aufnahmen vorkommt, zeigt die kinetische Entwicklung auf eine für das menschliche Auge unsichtbare Art und Weise. Einer Art und Weise, die nach der Erfahrung eines Muybridge, eines Marey, eines Bragaglia bekannt und schließlich verinnerlicht wurde. Es gibt jedoch, wie Raymond Bellour es beschrieben hat, „etwas Magisches am Verwackelten, am Verschwommenen“, nichts ist weniger natürlich als diese zitternden Linien, dieses Vibrato, das nichts anderes tut, als die Fotografie als Kunstgriff bezeichnen. Wie in der besten Tradition des barocken Stilllebens, wird das Bild zu einem Wald von Symbolen, in dem die Objekte der Vorwand sind, um zu einer Überlegung über die Existenz zu verleiten, über die Hinfälligkeit und die Unbeständigkeit der menschlichen Existenz: Die Themen der Vanitas, des Todes und der Wiedergeburt sind dominant; hier sei nur auf das Wiederkehren von Elementen wie der Schmetterling oder der Granatapfel verwiesen. Alle Sinne werden miteinbezogen: Durch die simuliere materielle Dimension der fotografischen Farbe (die der „Abstraktion“ des Schwarz/Weiß vorgezogen wird), schafft Marco Schifano Bilder, die eine synästhetische Erfahrung erzeugen, in der die Präsenz von Musikinstrumenten, Nahrungsmitteln, Blumen und kostbaren Materialien dazu dienen soll, gleichzeitig das Sehen, den Tastsinn, den Geruchsinn und das Gehör anzuregen. Diese Werke verdeutlichen ihre ausgeprägt filmische Natur: Das Bild wird wie ein Filmset aufgebaut, an dem minimale Erzählungen, Mikro-Geschichten stattfinden, in denen die Hauptdarsteller lebendige oder ausgestopfte Tiere und Insekte sind, Einwohner eines zerfallenden Universums. Eine Welt, die vom Aussterben bedroht ist, auf der Schwebe zwischen Perfektion und Verwesung, zwischen Kult für die Form und Zerfall der Materie, die den gebildeten, dekadenten Manierismus der filmischen Einstellungen von Peter Greenaway evoziert, in denen, wie Greenaway selbst sagt, „man nie weiß, ob man eine als echt verstellte Fiktion anschaut, oder eine wahre Tat, die als Fiktion dargestellt wird“. Auf der anderen Seit ist die Kluft zwischen Wahrheit und Simulation der experimentelle Nährboden auch der vorherigen Etappen des „Earth“-Zyklus, in dem die landschaftliche Tradition des XVII. Jahrhunderts, eine Erfindung, die im Publikum Wunder und Staunen hervorruft, durch die Benutzung von Infrarotfilmen neugedeutet wird. Diese dienen wiederum dazu, die natürliche Chromatik zu verändern, und hierdurch schneeweiße, jedoch nur scheinbar verschneite imaginäre Landschaftsbilder zu schaffen, die einmal mehr umso reeller sind.
Genre-Aufnahmen von Stillleben und lebendigen Tieren; Bilder von Schönheit, die an die flämische Bildkunst eines Peter Claes, eines Willem Kalf oder eines Abraham van Beyeren erinnern, aus deren schwarzen Hintergründen Erscheinungen luxuriöser Objekte des Alltags, Obst, Silbergeschirr, Glasgläser sich offenbaren. Die Fotografien von Marco Schifano durchgehen jene Geschichte und machen ihn zu einem Gegenwartskünstler, der sein Set mit althergebrachter handwerklicher Fertigkeit aufbaut, mit großem Kompositionsgeschmack. Einerseits exzentrische, andererseits klassische Fotografien: Eine schwierige Wahl, da sie die Leidenschaft für Schönheit auch von Seiten des Betrachters voraussetzt, sowie eine gewisse Kenntnis der Kunstgeschichte. Aber es sind auch Bilder, die den Augenblick der Vision, des Lebens festhalten, die bezaubernde Momente in blendenden Präsenzen aufheben und einzufrieren. Blendend aufgrund der Eigenartigkeit der Kombinationen, der Klarheit der Unruhen, der Genauigkeit der Licht-/Schattenkontraste, der raffinierten Eleganz. Marco Schifano ist ein Fotograf dort, wo er das Reproduktionsmittel mit technischer Exaktheit und Qualität anzuwenden weiß. Aber er ist auch ein Künstler, weil er sein eigenes Set entwirft, indem er seine persönliche Idee von Obsession und Schönheit verfolgt und materialisiert. Und schließlich ist er Maler dort ,wo er das weiterschafft, was jene berühmten Vorgänger in einer anderen Epoche zu tun versucht haben. Vor allem aber ist er ein Provokateur, der in Zeiten der Weigerung seitens der gegenwärtigen Kunst das, was gesetzt und schön ist, zu akzeptieren (dabei das Überflüssige, das Echte, das Spektakuläre oder das Konzeptuelle vorziehend), hingegen kultivierte (im Sinne von reich an Kultur und an kulturellen Hinweisen) Bilder vorschlägt, die den Blick erheben. Sie distanzieren sich jedoch vom Reellen, wollen weder Metaphern noch konzeptuelle Maschinen sein, und reduzieren das, was spektakulär ist, auf eine kristallklare, exzentrische, private Vision. Als ob sie trotz der totalen Immanenz und dem heidnischen Geist ein Rätsel heraufbeschwören wollten, ein Mysterium, wie z.B. das einer Erscheinung, einer Renaissance-ähnlichen Ankündigung, einer mystischen Epiphanie, wobei sie uns stets daran erinnern, dass es sich um unsere Zeit handelt, die sich auf zyklische Weise an andere Zeiten verknüpft, an alle Zeiten. Marco Schifano ist also ein unruhiger Künstler, der sich manchmal dadurch beruhigt, indem er schöne Bilder komponiert, manchmal indem er seine Unruhe in Bildern verarbeitet, die Vibrationen, die wiederum andere Gefühlsregungen in Schwingung setzen, verstecken und gleichzeitig aufdecken. Ein komplexer Fotograf, dessen Recherche in ständiger Entwicklung ist, der vielleicht nichts anderes macht als dem Phantom seines Selbst auf den Spuren zu sein, des Anderen, intimeren Selbst, das sogar in der Illusion und manieristischen Imagination wahrer erscheint, als das, was wir in unserem täglichen Leben sind. Schließlich sind die von Marco Schifano eingefrorene Erscheinungen, die die Finsternis zerreißen und - warum auch nicht? - nach einer Art von Ewigkeit und ewiger Schönheit streben, im Bewusstsein, das alles vergeht und alles zum Sterben bestimmt ist.